Anfang Juni war ich für ein paar Tage mit Tochter, Schwester, Nichte und Neffen in Amsterdam. Gemeinsam schipperten wir im Mietboot durch die Grachten, besuchten van Goghs Sonnenblumen im Museum und aßen haufenweise Friet Saté - ja, genau, das sind Pommes mit pikanter Erdnusssoße. Und für einen lauen Abend hatten wir noch letzte Tickets für einen Besuch im Anne-Frank-Haus ergattert.
Über zwei Jahre lang verbarg sich die junge Anne. Zusammen mit sieben anderen in einem Versteck im Hinterhaus des Geschäftsgebäudes an der Prinsengracht, in dem ihr Vater zuvor als Kaufmann angestellt gewesen war. Ihr Zimmerchen - kaum größer als unser Gästebad - teilte sie sich mit einem älteren Herrn. Das Fenster abgedunkelt aus Angst vor Entdeckung. Wenn tagsüber im Lager unter dem Versteck gearbeitet wurde, durfte das Wasser nicht laufen, die Toilettenspülung nicht benutzt werden, die Versteckten nur vorsichtig schleichend umhergehen. Um der Tristesse zu entgehen, hatte Anne Zeitungsbilder an ihre Wand geklebt - von Greta Garbo und Heinz Rühmann, der jungen Prinzessin Elisabeth von England und dem niederländischen Königshaus. Journalistin wollte Anne werden, und später einmal eine berühmte Schriftstellerin. Dass ihr Tagebuch tatsächlich zu einem der meist gelesenen Bücher der Welt werden würde, hat sie nicht mehr erlebt. Kurz vor Kriegsende starb sie ausgehungert an Typhus im KZ Bergen-Belsen. Heute wäre sie 93 Jahre alt geworden.
Mit einem Audioguide am Ohr wanderten wir durch die Ausstellungsräume. Im Versteck selber machte die Kommentierung eine Pause. Die Räume entfalteten ihre eigene Wirkung. Und ich fragte mich: Wieso tun wir Menschen einander sowas an? Bietet das Leben nicht schon genug Katastrophen - Überschwemmungen, Brände und Stürme, Krankheiten und frühen Tod, … Wieso nur machen wir es uns gegenseitig oft noch zusätzlich schwer? Wäre es nicht besser, wir würden lernen, einander zu achten und uns den Wagnissen des Lebens mit vereinten Kräften zu stellen?
Alles was ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut ihr ihnen auch.
Die Bibel, Matthäusevangelium 7,12
Wie würde unsere Welt sich verändern, wenn das unser Leitbild wäre?
Wiebke Vielhauer