An diesem Sonntag hätte sie Geburtstag gefeiert: meine Großmutter. Deshalb denke ich an sie und hebe meine Teetasse — wie wir es früher so oft gemeinsam getan haben. Mit Assamtee. Mit Sahne und Kluntje drin. Bitter und süß zugleich. Wie das Leben selbst.
In letzter Zeit habe ich oft an sie gedacht. Denn die Geflüchteten, die in diesen Wochen wieder in den Nachrichtenbildern auftauchen, erinnern mich an sie. Daran, dass es auch in meiner Familie Fluchtgeschichten gibt.
In den letzten Kriegswochen hat sie sich auf den Weg gemacht. Aus Pommern. Mit ihrem Mann hatte sie dort einige Jahre auf einem landwirtschaftlichen Versuchsgut gelebt und gearbeitet. Ihre drei älteren Kinder waren in der nahen Kreisstadt geboren. Zu Fuß und mit Leiterwagen, die Kinder an der Hand oder auf dem Arm, ging es Richtung Westen. Als ich ein Kind war, hat sie nie davon erzählt. Erst kurz vor ihrem Tod hat sie angedeutet, dass der Weg nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich war. Und dass sie machen der Gefahren nicht ausweichen konnte. Die Kinder heil nach Hause zu bringen, das war ihr am wichtigsten.
Nach Hause. Mein Großmutter hatte in allem Unglück doch Glück. Für sie ging es wirklich nach Hause: auf den elterlichen Warfthof in Ostfriesland. Wo die Familie die vier Geflüchteten in die Arme schloss. Die wenigen Habseligkeiten stellten sie in die Ecke. Und vermutlich kam als erstes eine heiße Tasse Tee auf den Tisch. Mit Sahne und Kluntje. Bitter und süß. Wie das Leben selbst.
Andere hatten und haben weniger Glück. Ihr Ziel ist die Fremde. Ein Ort mit anderen Sprachen, anderen Menschen, anderen Bräuchen.
… Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen ...
Die Bibel, Psalm Matthäus 25,35
Bei Matthäus spricht Jesus selbst diese Worte. Und macht die Gastfreundschaft an sich und besonders die Freundlichkeit gegenüber denen, die aus der Fremde zu uns kommen, so zu einer christlichen Tugend. Daran will ich mich erinnern. An Omas Geburtstag. Und an den anderen Tagen auch.
Wiebke Vielhauer
Wiebke Vielhauer